Datenpools zur Entwicklung risikodifferenzierter Tarifmodelle
Interview von Brigitte Hicker, experten Report, vom 15. Juli 2015
Meyerthole Siems Kohlruss Gesellschaft für aktuarielle Beratung mbH begleitet Versicherungsunternehmen bei strategischen Entscheidungen und operativen Prozessen und bietet umfassende versicherungsmathematische Dienstleistungen in Erst- und Rückversicherung. Die Gesellschaft ist in Köln ansässig und im deutschsprachigen Raum tätig. Zu ihrem Kundenkreis zählen: Kompositversicherer, kleine Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit (VVaG), Rechtsschutzversicherer, Agrarversicherer, Industrieversicherer, Captives und Corporates, Makler, Rückversicherungsmakler, Rückversicherer, Gerichte sowie Verbände und Pools. Der experten Report sprach mit dem geschäftsführenden Gesellschafter Onnen Siems.
experten Report: Herr Siems, das Unternehmen Meyerthole Siems Kohlruss (MSK) ist eine aktuarielle Beratungsgesellschaft für strategische Dienstleistungen in der Assekuranz. Was genau bietet Ihr Unternehmen an?
Onnen Siems: Unser Haus wurde 1998 gegründet. Wir sind ein Kind der Deregulierung, die damals im europäischen Versicherungsmarkt eingeführt wurde. Wir unterstützen die Schaden- und Unfallversicherungswirtschaft in den Kernfeldern Tarifkalkulation, Rückversicherung und Solvency II. Im letzten Jahr haben wir gut 50 Mandanten im deutschsprachigen Raum betreut.
Ihr Haus bietet durch eine ISO-Zertifizierung ein extrem hohes Sicherheitsniveau. Welche Norm erfüllen Sie hier und welche Vorteile genießt Ihr Kunde dadurch?
Die Anforderungen an Datenschutz und Datensicherheit steigen immer weiter an – zu Recht. Vor diesem Hintergrund haben wir uns vor vier Jahren entschieden, eine ISO-27001-Zertifizierung einzuführen. Sie bescheinigt, dass unser Informationssicherheits-Managementsystem strengen, internationalen Standards genügt. Damit können unsere Kunden sicher sein, dass ihre Daten, die wir für unsere Analysen verarbeiten, den Anforderungen des Code-of-Conduct genügen. Es geht um Vertrauenswürdigkeit und Professionalität. Beides spiegelt sich in dem Zertifikat wider.
Wohngebäudeversicherungen und Elementarschäden im Besonderen stehen spätestens dann wieder im Fokus, wenn Unwetter wüten und Schäden zu begleichen sind. Für die Kalkulation dieser Tarife bieten Sie einen speziellen Datenpool. Was ist der Grund und worin unterscheiden sich die Daten?
In Deutschland betreiben wir seit 2002 einen Datenpool für die Wohngebäudeversicherung. Mit dieser Initiative stellen wir den beteiligten Unternehmen differenzierte Statistiken für die Produktentwicklung, Tarifkalkulation, Sanierung und weitere Felder zur Verfügung. Wir ergänzen damit die wertvollen und hochsignifikanten Statistiken des GDV in optimaler Weise. Insbesondere kleine und mittlere Versicherer erhalten damit Zugriff auf einen Datenbestand, wie ihn sonst nur die Marktführer haben. Durch diese Datenbasis können die Unternehmen risikodifferenzierte Tarifmodelle entwickeln.
Die feinteilige Kenntnis über das einzelne Risiko eröffnet eine Vielzahl nützlicher Ansätze, wie die Identifikation profitabler Segmente (ja, auch die gibt es in Wohngebäude!), statistisch fundierte Ansätze für Sanierungskonzepte, zielgruppenspezifische Produkte – um einige Beispiele zu nennen. Konkret können wir mit unseren Modellen beispielsweise die Schadenquoten auf der Ebene des Einzelrisikos sehr gut prognostizieren. Möglich ist etwa auch, Zonierungsmodelle auf Einzel-PLZ-Ebene zu entwickeln, die besonders im Maklermarkt zusätzliche Vertriebspotentiale eröffnen.
Sie sprechen anlässlich der Schäden, die die Sturmtiefs „Mike“ und „Niklas“ angerichtet haben, von einem selbstentwickelten Sturmmodell für Deutschland. Was genau ist damit gemeint?
Wir haben auf Basis historischer Daten ein Sturmmodell entwickelt, das es uns ermöglicht, unmittelbar nach einem Sturmereignis in Deutschland den dadurch entstandenen Schaden abzuschätzen. Der wesentliche Einflussfaktor dabei ist die maximale Windgeschwindigkeit, die während des Sturms gemessen wird. Diese Daten können wir auf PLZ-Ebene bestimmen. Auf diese Weise sind wir in der Lage, den Schaden für einzelne Portfolios unter Berücksichtigung der individuellen Risikoexponierung zu ermitteln. Derzeit entwickeln wir das Modell weiter. Unser Ziel ist ein stochastisches Sturmmodell. Hierbei verwenden wir einen rein mathematischen Ansatz sowie die historischen Daten – eine Innovation.
Wetterdaten gelten ja nicht ausschließlich für Privathaushalte – auch Unternehmen sind in vielerlei Hinsicht von Unwetterschäden betroffen. Abgesehen von Schäden an den Firmengebäuden kann es zur Zerstörung von Waren und Transportmitteln, von Zufahrtswegen und Bahnlinien kommen. Dies zieht weitere finanzielle Einbußen nach sich. Finden auch diese Folgen Berücksichtigung in Ihren Datenpools und wenn ja, in welcher Form?
Im Gewerbe-Datenpool analysieren wir auch Schäden, die aus einer Betriebsunterbrechung, z. B. infolge eines Elementarereignisses, resultieren.
Sie führen ja bereits einen Datenpool im Bereich Gewerbliche Sach- und Haftpflicht. Welche Faktoren oder Elemente finden dort Eingang? Und dazu bieten Sie den „Gewerbe-Analyzer“ an und sprechen von „neuen Horizonten für Produktentwicklung und Tarifierung.“ Könnten Sie uns ein Beispiel geben, was dies in der Praxis bedeuten kann?
Im Gewerbe-Datenpool analysieren wir die Gewerbliche Gebäude-, Inhalts- und Betriebsunterbrechungsversicherung sowie die Gewerbliche Haftpflichtversicherung. Wir erhalten von den teilnehmenden Gesellschaften die einzelvertraglichen Bestands- und Schadendaten. Auf diese Weise haben wir die maximale Flexibilität bei der Datenanalyse. Zudem reichern wir die Daten auf verschiedene Weisen an, das können Informationen aus externen Datenquellen sein, aber auch zusätzliche Erkenntnisse, die sich aus den Daten ableiten lassen, aber nicht originär in den Vertragsinformationen enthalten sind.
Beispielsweise haben wir mit Hilfe mathematischer Verfahren eine Klassifizierung der einzelnen Betriebs- bzw. Wagnisarten vorgenommen, um so die profitablen, stabilen Risiken von den unprofitablen Risiken mit volatilen Ergebnissen zu differenzieren. Ein anderes Beispiel ist das Zonierungsmodell für das Bauhandwerk, das wir mit einem speziell entwickelten Regionalisierungsalgorithmus ermittelt haben.
Die resultierenden Erkenntnisse stellen wir für unsere Kunden zusammen. Außerdem erhalten sie das Auswertungstool „Gewerbe-Analyzer“. Dort sind die Daten, die die Kunden ursprünglich an uns geliefert haben, sauber aufbereitet. So bekommen unsere Kunden Grundlagen und Impulse, die sie in der Produktentwicklung kreativ nutzen können.
Sie bieten eine Reihe weiterer Datenpools an, z.B. zum Thema „Funktionelle Invaliditätsversicherung“ und „Rechtsschutz“ – welche Daten werden dort erfasst und welche Vorteile liefern diese Pools den Teilnehmern?
Das ist richtig. Wir spüren deutlich, wie die Nachfrage nach professionellem Datenpooling immer weiter steigt. Die Versicherer haben den großen Nutzen der unternehmensindividuellen Bestandssteuerung erkannt. Unsere Datenpools für die Funktionelle Invaliditätsversicherung (FIV) und Rechtsschutz sind letztes Jahr ins Leben gerufen worden. In Summe betreiben wir damit fünf Datenpools in Deutschland und Österreich. Der FIV-Datenpool nimmt eine Sonderstellung ein, da der GDV hierfür kaum Statistiken zur Verfügung stellt. Die aufwändige Kalkulation und Dokumentation haben wir im Auftrag der E+S Rückversicherung durchgeführt. Aufgrund der teilweise schwachen Datenlage musste auf alternative Statistiken zurückgegriffen und dementsprechend viele Annahmen getroffen werden. Der FIV-Datenpool stellt die Basis für zukünftige Nachkalkulationen und Produktmodifikationen dar. In Rechtsschutz war die Motivation eine andere: in 2013 hat die Allianz ihren Rechtsschutztarif komplett neu kalkuliert und dafür eine neue Tarifstruktur eingeführt. Erstmalig im deutschen Markt wird jetzt u.a. nach dem Alter und dem Wohnort des Versicherungsnehmers tarifiert. Dies hat den Rechtsschutzmarkt für eine intensivere Preisdifferenzierung nachhaltig sensibilisiert, so dass wir den Rechtsschutzdatenpool mit über 11 Prozent Marktanteil rasch einführen konnten.
Welche Annahmen, Parameter und Merkmale sind für Sie ausschlaggebend, wenn Sie einen Versicherer bei der Tarifierung begleiten? Und was sind die häufigsten „Fehler“, die auftauchen, wenn ein Versicherer bei Ihnen einen neu entwickelten Tarif prüfen lässt?
Tarife sind komplexe Gebilde – auch wenn es sich um vermeintlich einfache Tarife wie eine private Haftpflicht (WNR 9001) handelt. Im Allgemeinen starten wir mit einem Tarifaudit der aktuellen Produkte. Hier können wir schnell die Spreu vom Weizen trennen. Dies können untertarifierte und übertarifierte Segmente sein oder auch die Feststellung, ob bereits gegen den Markt selektiert wird, weil die Margen rückläufig sind. Entscheidend ist der individuelle Bestandsmix, da aus EDV-technischen Restriktionen oder vertriebsstrategischen Vorgaben nicht immer ein hundertprozentig risikoadäquater Tarif in den Markt getragen werden kann – das heißt, es gibt immer Segmente, die quersubventioniert werden.
Wir quantifizieren diese Effekte und stellen den Entscheidungsträgern damit einen übersichtlichen „Einkaufskatalog“ zur Verfügung. Oft wird das Bestandscontrolling vernachlässigt. Es reicht nicht aus, die Sparte nur als eine Einheit zu bewerten. Wir empfehlen stets eine Datenbasis aufzusetzen, die es ermöglicht, sämtliche – auch historische – Tarife mit ihren Merkmalen zu bewerten. Wie oben ausgeführt: Es gibt immer gute und schlechte Risiken, die identifiziert und quantifiziert werden müssen. Nur so kann das Management informiert entscheiden.
An welchen Daten, Prozessen oder auch Zertifizierungen arbeiten Sie für die Zukunft?
Wir werden die Idee des Datenpoolings weiter in die EU exportieren. Nach dem großen Erfolg in Österreich werden wir uns in diesem Jahr unseren östlichen Nachbarn in Polen zuwenden – und anschließend dem wachsenden Markt der Cyberversicherung. Unsere Prozesse verbessern wir kontinuierlich – auf Ebene der Datenverarbeitung und Datensicherheit sowie durch regelmäßige Mitarbeiterfortbildungen.
Sie bieten eine Seminarreihe zu „Versicherungstechnik“ in verschiedenen Bereichen an – wer ist die Zielgruppe und was ist Ihre Zielsetzung bei den Seminaren?
Wir sprechen sowohl Berufseinsteiger als auch Führungskräfte an, die ihre versicherungsmathematische Kompetenz erweitern wollen. Auch Aktuare kochen nur mit Wasser. Unser Anliegen ist, die zugrundeliegende Methodik transparent und nachvollziehbar zu machen.