Die Fragen stellte Tobias Daniel, VWheute, 3. September 2020
„Klima- und Mobilitätswandel sowie Digitalisierung sind die Megatrends, die auch die Kfz-Versicherung nachhaltig beeinflussen werden“, glaubt Onnen Siems, Geschäftsführer von Meyerthole Siems Kohlruss. Im Doppelinterview mit Caren Büning, Mitglied der Geschäftsleitung bei der SCOR Rückversicherung Deutschland, wirft er für VWheute einen Blick in die Zukunft der Kfz-Versicherung.
Wie bewerten Sie die aktuelle Lage auf dem Kfz-Versicherungsmarkt – auch mit Blick auf die neuen Formen von Mobilität?
Caren Büning: Assistenzsysteme, automatisierte Fahrfunktionen und alternative Antriebs- sowie Mobilitätskonzepte revolutionieren die Fortbewegung. Diese Entwicklungen haben auch Konsequenzen auf Schäden und Haftungsfragen. Nicht nur deshalb müssen wir Versicherer diesen Wandel intensiv mit begleiten und unsere Produkte adaptieren. Es gibt viele gute Ideen und Konzepte – allerdings entwickelt sich die Marktakzeptanz derzeit deutlich langsamer als erwartet beispielsweise in Bezug auf Car Sharing Konzepte oder E-Scooter Nutzung.
Onnen Siems: Bekanntlich soll man den Tag nicht vor dem Abend loben, aber die K-Sparte wird voraussichtlich das beste Ergebnis seit 15 Jahren zeigen. Nach unserer Einschätzung ist für die gesamte Kraftfahrtsparte im Anfalljahr 2020 mit einer kombinierten Schadenkostenquote (SKQ) von 92 Prozent zu rechnen. Dabei wird das Ergebnis in Kasko – vorbehaltlich noch möglicher Elementarereignisse – mit fast 90 Prozent SKQ etwas besser als in Haftpflicht mit ca. 93 Prozent SKQ ausfallen.
Die mittleren Beitragseinnahmen pro Kfz sind mit bis zu minus ein Prozent für 2019 leicht rückläufig. Bemerkenswert sind die deutlich gestiegenen Neuzulassungen für Krafträder – einem heterogenen Zielsegment, dem die Versicherungswirtschaft mehr Aufmerksamkeit schenken sollte.
Sie sprechen in Ihrem Vortrag von Megatrends, welche die Kfz-Versicherung beeinflussen: Welche Trends sind das und woran machen Sie dies fest?
Onnen Siems: Klima- und Mobilitätswandel sowie Digitalisierung sind die Megatrends, die auch die Kfz-Versicherung nachhaltig beeinflussen werden. Die COVID-19-Pandemie ist in vielen Bereichen ein Katalysator dieser Entwicklungen. So ist unserer Gesellschaft ein Crashkurs in der digitalen Kommunikation „verordnet“ worden. Im Kampf um die „digitale Schnittstelle“ ins Kfz haben die Automobilhersteller mit E-Call und OTA-Updates (Over the air) die Nase vorn und die Kfz-Versicherer müssen sich anstrengen, den Anschluss nicht zu verlieren. Dabei ist die Schadensteuerung zwar ein wichtiger Aspekt, aber die positiv belegte Kommunikation mit dem Versicherungsnehmen zeigt noch deutliches Optimierungspotenzial. Telematik ist hierfür nur ein Beispiel.
Caren Büning: Trends, die definitiv Einfluss auf die Kfz-Versicherung haben, sind zum einen durch den Klimawandel benötigte, alternative Antriebsformen, um die Emissionen zu verringern. Die Automobilindustrie setzt auf Hybrid-, Elektro- und Brennstoffzellenfahrzeuge.
Welche Anforderungen sich hieraus an Strom- und Gasnetze sowie an Ladeinfrastruktur und Speicherkapazität ergeben, wird anhaltend diskutiert. Ebenfalls die veränderten Auswirkungen auf den Schadenaufwand speziell in Kraftfahrt Kasko. Durch den Klimawandel stark beeinflusst sieht sich die Sparte Kasko. Extremereignisse nehmen in ihrer Frequenz zu und müssen entsprechend in der Risikomodellierung berücksichtigt werden.
Assistenzsysteme und automatisierte Fahrfunktionen haben positive Konsequenzen auf Schadenfrequenzen, allerdings werfen sie schwierige, ethische und rechtliche Fragen in Bezug auf Haftungsansprüche auf. Hier geraten auch die Hersteller der Assistenzsysteme mehr in den Fokus, beispielsweise über potenzielle Regressansprüche der Kfz-Versicherer. Des Weiteren bedrohen neue Gefahren durch die Vernetzung der Systeme die Verkehrsteilnehmer, wie beispielsweise Hacker Angriffe, defekte Sensoren oder Softwarefehler.
Zudem sehen wir beim Thema Telematik eine vielversprechende Entwicklung. Insbesondere die Öffnung der Tarife für alle Altersgruppen durch die beiden Marktführer hat eine neue Dynamik in den Markt gebracht.
Welche Auswirkungen sehen Sie derzeit durch die Corona-Pandemie auf die Mobilität der Menschen? Und welche langfristigen Folgen sehen Sie dadurch?
Caren Büning: Wir haben insbesondere zwischen Mitte März und Ende Mai einen deutlichen Rückgang der Mobilität in ganz Deutschland gesehen. Das Vorjahres-Niveau scheint allerdings im Juni schon fast wieder erreicht. Was die Auswertungen zu den Monaten Juli und August zeigen werden, wird interessant sein. Derzeit anzunehmen ist, dass aufgrund der Pandemie deutlich mehr Personen mit dem Auto in den Urlaub gefahren sind.
Und diejenigen, die teilweise wieder zum Arbeiten ins Büro fahren, den privaten PKW bevorzugen oder auf das Fahrrad umsteigen und aus Angst vor Ansteckung den ÖPNV meiden werden. Das würde für eine erhöhte Frequenz im Schadenaufkommen in den Monaten Juli und August sprechen.
Allerdings werden Home-Office Konzepte derzeit durch die positiven Erfahrungen während des Lockdowns stark überdacht und noch stärker promotet. Verschiedene Studien zeigen auf, dass es während der Home-Office-Phase zu keiner Verringerung der Produktivität und Effizienz gekommen ist. Hinzu kommt, dass das Home-Office-Konzept den Mitarbeitern durch flexible Arbeitszeiten und der Ersparnis der An- und Abreise zum Arbeitsplatz ermöglicht, die Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben zu verbessern.
Experten gehen derzeit davon aus, dass zukünftig vermehrt aus dem Home-Office gearbeitet werden wird und damit weniger „Pendler“ unterwegs sein werden. Das Profil des Pendlers ist ein großes Segment in Deutschland, wenn man berücksichtigt, dass 40 Prozent der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten zur Arbeit in einen anderen Landkreis „pendeln“ müssen. Dieses Segment wird sich zukünftig im Fahrverhalten deutlich wandeln. Von regelmäßig kurzen Fahrten zu Stoßzeiten zum Arbeitsplatz, zu deutlich weniger, dafür teilweise längeren Fahrten am Wochenende. Das zu Grunde liegende Risiko ändert sich dadurch.
Die individuelle Fahrleistung wird immer entscheidender für die Tarifkalkulation, genauso wie eine verursachungsgerechte, realistische Prognose des zukünftigen Schadenaufkommens. Klassische Tarife brauchen hier viel zu lange, um Thesen quantitativ zu validieren. Telematikdaten stehen detailliert und sofort zur Verfügung. Erkenntnisse können direkt abgeleitet und umgesetzt werden.
Onnen Siems: Die COVID-19-Pandemie erhöht die Attraktivität des Individualverkehrs. Aber nicht nur mit dem eigenen Kfz, sondern auch den bedarfsorientierten Besitz wie Free Floated Sharing-Modell für PKW, Krafträder, Fahrräder und Roller. In nicht so ferner Zukunft werden Robotertaxis die Nutzung dieser Nutzungsformen noch weiter vereinfachen, denn das Fahrzeug kommt zum Besteller – wie ein Taxi, aber ohne menschlichen Fahrer.
Telematik stößt in der Branche nicht unbedingt auf ungeteilte Zustimmung: Können Sie die Kritik daran nachvollziehen und welche Vorteile sehen Sie in der Telematik?
Caren Büning: Das Mobilitätsverhalten verändert sich im Laufe der letzten Jahre stetig – Assistenzsysteme, automatisierte Fahrfunktionen und alternative Antriebs- sowie Mobilitätskonzepte revolutionieren unsere Fortbewegung und die Nutzung des eigenen PKW. Auch derzeit sehen wir, dass sich das Mobilitätsverhalten von jetzt auf gleich durch äußere Einflüsse ändern kann. Die durch den Lockdown verursachte Kontaktsperren haben ad hoc dazu geführt, dass ein Großteil der Bevölkerung für einen längeren Zeitraum zu 100 Prozent aus dem Home-Office gearbeitet hat.
Bei Telematik sehe ich den Vorteil, dass sich das immer schneller veränderte Mobilitätsverhalten smart und zeitnah umsetzen lässt, um eine adäquate Risikoprämie zu ermitteln. Neue, veränderte Fahrmuster können zeitnah ins Risikomodell implementiert werden. Hinzu kommt, dass das Versicherungsprodukt der Zukunft individuell anpassbar sein sollte, verständlich und nicht komplex. Anfragen sollten digital abzuwickeln sein, am besten per Versicherungs-App auf dem Smartphone. Das alles sind Zutaten, die Telematik bietet.
Die Kfz-Versicherung kann es mithilfe von Telematik aufs Smartphone schaffen, da die Anzahl der Antragsfragen gegenüber traditionellen Tarifen deutlich reduziert werden kann, weil reelle Fahrdaten klassische Tarifierungsdaten ersetzen.
Onnen Siems: Viele kritisieren: es gibt nur Rabatte – wo bleibt der Ausgleich? Eine berechtigte Frage, die regelmäßig hochkommt, wenn neue Tarifmerkmale in den Markt kommen. Wie beispielsweise die jährliche Fahrleistung, die zur Jahrtausendwende zunächst als Wenigfahrermerkmal eingeführt wurde. Es hat mindestens zehn Jahre gedauert, bis der letzte Kfz-Versicherer die Jahresfahrleistung in seinen Tarif eingeführt hat. Dabei folgt die Eigendynamik im Wettbewerbsintensiven Kfz-Versicherungsmarkt stets dem selben Muster:
1. Schadenarme Kundensegmente werden über ein neues Tarifmerkmal attraktiv bepreist, sodass der Versicherer in diesem Segment überproportional wächst und im besten Fall den absoluten Ertrag steigert.
2. Im komplementären Kundensegment erfährt der Versicherer eine „Kanibalisierung“ durch den Wechsel der guten Risiken in das schadenarme Segment. Um hier die Margenerwartung weiterhin zu erreichen, ist das Tarifniveau entsprechend zu erhöhen.
3. Versicherer, die diese Risikoselektion über das neue Tarifmerkmal nicht betreiben, müssen ihren gesamten Bestand erhöhen, um ihre Margenziele zu erreichen. Und verlieren insgesamt an Attraktivität im umkämpften K-Markt.
4. Diese sogenannte adverse Selektion kann nur schwer auf Dauer durchgehalten werden.
5. Das neue Tarifmerkmal wird zum Marktstandard.
Diesen Weg wird der K-Markt auch bei Telematiktarifen gehen.
Seit längerem streiten Kfz-Versicherer und Automobilhersteller um die Frage: Wem gehören die gewonnenen Daten? Wie ist Ihre Einschätzung?
Caren Büning: Bei dieser Frage muss man sehr genau differenzieren, über welche Daten wir sprechen. Sprechen wir über solche Daten, wie sie die Versicherer zur Berechnung eines Telematik-Tarifes benötigen, so geht es im Wesentlichen um personenbezogene Daten. Diese sind nach der DSGVO besonders geschützt und gehören weder dem Versicherer noch dem Automobilhersteller, sondern einzig und allein dem Versicherungsnehmer bzw. Fahrer des Fahrzeugs. Letztendlich sollte er entscheiden, wem er Zugriff auf seine Daten gibt und mit welchem Zweck.
Andere Daten, wie etwa der Ölstand oder der Reifendruck eines Fahrzeuges, könnten sicherlich auch von wirtschaftlichem Interesse für Versicherer sein, dabei geht es aber eher um vertikale Geschäftsmodellerweiterung, die für uns als Rückversicherer ein nachgelagertes Interesse haben. Wünschenswert wäre eine bessere Kooperation zwischen Herstellern und Versicherern hinsichtlich der Telematik-Daten.
Die in den modernen Fahrzeugen verbaute Technik würde eine deutlich präzisere Erfassung dieser Daten erlauben, ohne, dass der Kunde zusätzliche Mobile-Apps, Dongels, oder OBD2-Stecker nutzen müsste. Selbstverständlich müssten die Automobilhersteller für die Bereitstellung dieser Technik entschädigt werden, doch diese Kosten sollten sich – auch im Interesse des Verbrauchers – auf einem moderaten Niveau bewegen.
Onnen Siems: Die Daten sollten dem Versicherungsnehmer bzw. dem Fahrer des Fahrzeuges gehören, der diese optional seinem Versicherer zugänglich machen kann. Hier ist gute Lobbyarbeit der Versicherer in Brüssel dringend notwendig. Die Politik fordert ein nachhaltiges Geschäftsmodell von den K-Versicherern, um den barrierefreien Zugang zur digitalen Schnittstelle ins Kfz ggf. gesetzlich sicherzustellen. Telematik kann diese Bemühungen unterstützen.
Marktbeobachter sprechen immer wieder von einem Preiskampf in der Branche: Wie ist Ihre Einschätzung dazu?
Onnen Siems: Die guten Ergebnisse in Kfz schaffen Luft für einen Preiskampf in der Kfz-Versicherung? Eher nein, denn in anderen Sparten und im Gewerbe-/Industriekundensegment sind die Belastungen aus der COVID-19-Pandemie beachtlich und treffen Versicherer unterschiedlich stark.
Das gesamte Schadenausmaß in der Rechtsschutz-, insbesondere in der Berufsrechtsschutzversicherung – ist noch nicht vollständig absehbar. Sparten mit Prämienberechnungen nach Umsatz, Lohnsumme oder Mitarbeiteranzahl werden zumindest das Prämienvolumen in vielen Branchen signifikant einbrechen lassen. D.h. die Rezession und das anhaltend niedrige Zinsniveau werden daher kaum Luft für neue Preiskämpfe in Kfz zulassen.
Caren Büning: Kraftfahrt ist eine der wenigen Sparten in der Schaden- Unfallversicherung, in der wir wettbewerbsbedingt, marktseitig in der Vergangenheit und der Gegenwart einen zyklischen Verlauf des versicherungstechnischen Ergebnisses gesehen haben und derzeit sehen. Dabei gab es im Zeitvergleich ausgleichende Effekte durch Kraftfahrt Kasko; das hat sich geändert und in den letzten Jahren hat Kraftfahrt Haftpflicht Kraftfahrt Kasko subventioniert.
Dieser Zyklus könnte zukünftig, im Laufe der Zeit durch einen zunehmenden Verdrängungswettbewerb und deutlich unzureichende Erträge als Folge der Coronakrise auf der Kapitalanlageseite stetig weiter abflachen in Bezug auf Amplitudenhöhe und Zeithorizont. Die versicherungstechnischen Erträge werden jedoch weiterhin einer gewissen Volatilität unterliegen, insbesondere durch extreme Cat-Ereignisse aus Cyberattacken und Naturkatastrophen.
Tesla hat jüngst angekündigt, auch in das europäische und chinesische Versicherungsgeschäft einsteigen zu wollen. Wie bewerten Sie die Pläne von Elon Musk?
Caren Büning: Auch andere kapitalstarke Tech-Unternehmen wie Google oder Amazon haben bereits ihre Fühler in Richtung der Assekuranz ausgestreckt. Ein substanzieller Markteinstieg ist aber bisher ausgeblieben – möglicherweise sind die Margen in anderen Segmenten höher oder man ist von der europäischen Regulierungspraxis abgeschreckt. Daher wird es spannend sein, inwieweit und mit welcher Tiefe in der Wertschöpfungskette Tesla seine Pläne in die Tat umsetzt.
Onnen Siems: Elon Musk hat schon oft vollmundige Ankündigungen ausgesprochen, die von sogenannten (Automobil-) Experten belächelt wurden und die Pleite von Tesla prognostiziert haben. Die haben aber übersehen, dass Tesla kein Automobilhersteller ist, sondern ein Tech-Konzern aus dem Silicon Valley. Musk wird sich auch nicht von Solvency II abschrecken lassen. Musk sollte nicht unterschätzt werden; er sucht in Deutschland revolutionäre Aktuare – und die wird er finden.