Dr. Alexander Ströhl, AssCompact, vom 3. Mai 2022, S. 34ff. (PDF-Fassung des Artikels)
Die Nachhaltigkeitswende in der Versicherungswirtschaft basiert auch auf der Entwicklung und der Tarifierung nachhaltiger Versicherungslösungen. Doch wie werden Nachhaltigkeitsrisiken überhaupt in die Produktentwicklung integriert? Welche Bedeutung besitzen nachhaltige Verhaltensweisen und wo stößt die Tarifierung nachhaltiger Produkte an Grenzen? Dazu hat AssCompact beim aktuariellen Beratungsunternehmen Meyerthole Siems Kohlruss nachgefragt. Das Interview führte Dr. Alexander Ströhl.
Herr Siems, Herr Bohl, was bedeutet Nachhaltigkeit in der Aktuarbranche?
Florian Bohl (FB): Eine einheitliche Definition für Nachhaltigkeit gibt es auch in der Aktuarbranche nicht. Für Aktuare hängt die Betrachtung von der konkreten Fragestellung ab. Allgemein orientiert sich die Aktuarbranche wie viele andere Akteure in der Versicherungswirtschaft an den ESG-Nachhaltigkeitskriterien.
Onnen Siems (OS): Der Übergang hin zu einer nachhaltigen Wirtschaft und Gesellschaft stellt einen weiteren Schwerpunkt dar – also weniger die Frage, was ist eigentlich Nachhaltigkeit, sondern der ihr zugrundliegende Prozess. Denn daraus entstehen neue Risiken – sogenannte transitorische Risiken – wie das temporär größere Risiko bei der Sicherstellung der Energieversorgung. Die Versicherer sind durch Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung (EIOPA) und BaFin dazu aufgerufen, solche Fragestellungen zu bewerten. Der Umstellungsprozess an sich birgt also Risiken; sicherlich auch Chancen, aber für die Versicherungswirtschaft stehen die Risiken naturgemäß im Vordergrund.
Also: Neues Risiko, neues Versicherungsgeschäft?
OS: Neue nachhaltigkeitsbezogene Risiken, die es zu bewerten und zu versichern gilt, bedeuten konkret neues Versicherungsgeschäft, ja. Wer risikodifferenzierende Merkmale frühzeitiger als der Wettbewerb identifiziert und anspricht, kann Marktanteile ausbauen und genießt zumindest temporär einen Wettbewerbsvorteil. Wir ermuntern unsere Mandanten auch dazu, genau dies zu tun.
Wie betrachten Aktuare Nachhaltigkeit?
FB: Als Aktuar betrachte ich Nachhaltigkeit primär aus einer Risikoperspektive. Am Beispiel nachhaltiger Verhaltensweisen könnte eine typische Fragestellung sein: Ist ein sich nachhaltig verhaltender Kunde ein besseres oder ein schlechteres Risiko? Bezogen auf Versicherungslösungen wiederum würde ein besseres Risiko Rabatt, ein schlechteres Risiko einen Zuschlag erhalten. Auch wenn der sich nachhaltig verhaltende Kunde nicht als besseres Risiko identifiziert wurde, könnte der Versicherer aber strategisch entscheiden, einen Abschlag zu geben.
OS: Aktuare sind den versicherungsmathematischen Grundsätzen verpflichtet. Aktuare betrachten Nachhaltigkeit daher vorurteilsfrei. In diesem Sinne ist ein sich nachhaltig verhaltender Kunde nicht automatisch ein besseres Risiko.
… zum Beispiel …
OS: … Regelmäßiges Fahrradfahren gilt in der Unfallversicherung als schlechter Risikofaktor, weil Unfall- und Verletzungsrisiko aus mehreren Gründen deutlich höher sind als beim Autofahren; obwohl das Fahrradfahren per se ein klima- und umweltfreundliches – ergo nachhaltiges – Verhalten ist.
Wie erlangen nachhaltige Verhaltensweisen denn Bedeutung in der Aktuartätigkeit?
FB: Sie erlangen zunächst durch potenzielle Tarifierungsmerkmale an Bedeutung, denn die erste Frage lautet: Woran ist überhaupt eine nachhaltige Verhaltensweise zu erkennen? Teilweise korreliert dies mit schon vorhandenen Tarifmerkmalen, so könnten sich beispielsweise Versicherungsnehmer aus bestimmten Altersklassen und Regionen tendenziell nachhaltiger verhalten. Aber auch eher neue Merkmale, wie die Energieeffizienzklasse eines Eigenheims, könnten eine nachhaltige Verhaltensweise erkennen lassen.
Welcher Schritt folgt nach der Analyse möglicher Merkmale?
FB: Im Anschluss analysieren wir die These, ob ein bestimmtes Tarifierungsmerkmal – zum Beispiel die Energieeffizienzklasse einer Immobilie – gleichzeitig auch ein das Risiko gut differenziert. Am Beispiel der Energieeffizienzklasse sind weitere Fragen zu klären. Eine hohe Energieeffizienzklasse geht beispielsweise oft mit einer kürzlichen Modernisierung einher. Der Modernisierungszyklus wird aber auch teilweise schon in der Tarifierung verwendet. So stellt sich auch die Frage, ob die Energieeffizienzklasse trotzdem zusätzlich noch das Risiko differenziert. Noch offensichtlicher liegt die Betrachtung beim vorausschauenden Autofahrer: Diese vorsichtige und emissionsarme Verhaltensweise ist sowohl in der Kfz-Versicherung als auch beim Thema Nachhaltigkeit ein gutes Risiko, sodass eine Belohnung einer „nachhaltigen“ Fahrweise auch aus Risikoaspekten sinnvoll ist – Stichwort Telematiktarif.
Woher schöpft MSK denn all diese Risikomerkmale?
OS: Zum einen verfügen wir über einen großen Datenpool, den wir regelmäßig auf Links drehen und versuchen, alle irgendwie erdenklichen Informationen durch intelligente Verknüpfung der Daten zu generieren. Zum anderen beobachtet MSK die Entwicklungen im Versicherungsmarkt sehr genau. Natürlich kommen auch die Versicherer auf uns mit Ideen über Risikomerkmale zu und lassen sich von MSK eine kalkulatorische Einschätzungen geben. Manchmal stehen wir auch vor der Herausforderung, überhaupt keine Daten zu haben, aber entsprechend des Mandantenwunsches trotzdem eine quantitative Aussage vornehmen zu müssen. Hier helfen guter Menschenverstand sowie ein Rückgriff auf branchenexterne Statistiken.
Wo stößt die Tarifierung nachhaltiger Verhaltensweisen an ihre Grenzen?
FB: Kniffelig wird es bei Konflikten zwischen den ESG-Risiken. Nehmen wir einen Menschen, der besonders sozial veranlagt ist und viel Geld für konkrete soziale Projekte spendet, zugleich aber keinen Cent in die energetische Sanierung seiner Immobilie steckt. Sicherlich haben wir es aus sozial nachhaltiger Sicht mit einem wünschenswerten Verhalten zu tun, während das Verhalten in der Wohngebäudeversicherung aus Risikosicht wiederum nicht wünschenswert ist.
Ich möchte auch auf nachhaltige Versicherungsprodukte zu sprechen kommen: Inwiefern ist die Aktuartätigkeit hier involviert?
FB: Das Produktdesign ist für uns ein weiterer Beratungsschwerpunkt und hier werden die ersten nachhaltigen Zusatzleistungen angeboten und bepreist. Ein wichtiger Punkt ist hierbei die nachhaltige Schadenregulierung beispielsweise durch monetäre Belohnungssysteme bei der Anschaffung energieeffizienterer Geräte oder der Berücksichtigung von Nachhaltigkeitssiegeln bei der Kaufentscheidung nach einem Schadenfall. Dadurch steigt rein kalkulatorisch betrachtet aber der aktuarielle Preis des Risikos, weil in einem Teil der Schadenfälle durch die Anschaffung verbrauchsarmer Geräte höhere Kosten entstehen. Gibt man diesen höheren Preis an den Kunden weiter? Oder ist der Kunde nach Anschaffung eines energieeffizienten Gerätes sogar ein besseres Risiko für den Versicherer, sodass die Preiserhöhung nicht vollständig weitergegeben werden muss? Bei dieser Kalkulation der Wechselwirkungen kommen dann wieder wir Aktuare ins Spiel.
OS: Diese sogenannten Produktfeatures beobachten wir bei MSK sehr genau, nicht nur national, sondern europaweit. MSK verfügt darüber hinaus eine eigene Produktdatenbank, die wir auch in den Beratungsgesprächen mit Mandanten heranziehen. Unserer Einschätzung nach haben viele Versicherer das Thema Nachhaltigkeit in der Produktentwicklung seit etwa zwei Jahren sehr weit oben auf der Agenda. Denn gemäß EU-Regulierung ist ja vorgesehen, Nachhaltigkeit im Vertriebsprozess konsequent anzusprechen.
Stichwort Regulierung: Wie beeinflusst die EU-Umwelttaxonomie Ihre Arbeit?
FB: Damit eine Leistung in der Sachversicherung als taxonomiekonform gilt, muss sie sechs Kriterien erfüllen. Zwei davon, nämlich die Nutzung modernster Modellierungstechniken sowie das Angebot von Anreizen zur Risikominderung – zum Beispiel durch Rabatte – haben unmittelbar Einfluss auf die Produktentwicklung und Tarifierung. Allerdings bleibt uns die Regulierung noch ein paar Antworten schuldig. So bleibt unklar, wann genau die Kriterien wirklich erfüllt sind.
OS: Auch die Konsequenzen der Taxonomiekonformität bleiben unklar: Kann man ein Versicherungsprodukt, das den Taxonomiekriterien nicht genügt, irgendwann nicht mehr verkaufen? Hier sind die Ansätze sicherlich noch nicht zu Ende gedacht.
Gibt es denn auch Schwierigkeiten bei der Gestaltung nachhaltiger Produkte?
FB: Ein klassischer Trade-off existiert zwischen Aktuaren, die das Risiko möglichst genau bepreisen wollen, und den Vertriebsexperten, die ein möglichst einfaches Produkt mit möglichst wenig Fragen bevorzugen. Will man beim Produktabschluss, dass der Kunde den Energieausweis vorlegt? Das könnte recht aufwendig, aber im Sinne der Nachhaltigkeit und ggbfs. auch der Risikodifferenzierung richtig sein. Nur der Vermittler möchte diese Praxis wohl vermeiden. Klar sollte sein, dass so ein Produktabschluss keine Raketenwissenschaft sein sollte.
OS: Aus aktuarieller Sicht spannend sind auch Fälle der Untertarifierung, also Versicherungslösungen mit einer zu geringen risikoadäquaten Prämie. Ursache einer solchen Untertarifierung sind Wettbewerbsüberlegungen seitens der Versicherer. So gewährt ein Versicherer beim Kauf eines Elektroautos, weil es eben ein gutes Risiko ist, einen zehnprozentigen Rabatt auf die Kfz-Versicherung, auch wenn auf Basis einer aktuariellen Kalkulation höchstens ein Rabatt in Höhe von zum Beispiel 7% gerechtfertigt wäre. Will ich als Versicherer in dieses Risiko einer Untertarifierung investieren? Hier führen wir mit den Vertriebsvorständen von Versicherern mitunter spannende Diskussionen!
Und zum Schluss: Welche Aufgaben bringt die Zukunft?
FB: Die Nachfrage von Seiten des Kunden ist gegenwärtig noch nicht allzu groß. Es gibt auch nur wenige, wirklich überzeugende nachhaltige Produkte im Markt. Wenn das Angebot größer wäre und das mehr beworben würde, würde vielleicht auch die Nachfrage steigen. Aber da belauern sich die Versicherer aktuell untereinander und warten weitere Schritte eher ab. Unabhängig davon sehe ich angesichts des zunehmenden Stellenwertes von Nachhaltigkeit eine verbesserte Naturgefahrenmodellierung gemeinsam mit der Analyse sich verändernder Versicherungsbedarfe als große Aufgabe.
OS: Wir leben in einer sehr schnelllebigen Zeit. Was heute als richtig gilt, gilt morgen vielleicht nicht mehr als richtig. Gerade auch beim Thema Nachhaltigkeit, wie an der Aufnahme von Atomkraft und Erdgas in die EU-Taxonomie zu beobachten war. Ein ganzheitlicher Blick auf Nachhaltigkeit ist daher bei allen Akteuren der Versicherungswirtschaft der entscheidende Erfolgsfaktor!
Meyerthole Siems Kohlruss (MSK) begleitet Versicherungsunternehmen bei strategischen Entscheidungen und operativen Prozessen im Bereich der Schaden- und Unfallversicherung.
Onnen Siems ist Mitgründer und Geschäftsführer des Unternehmens.
Florian Bohl ist als aktuarieller Berater bei MSK tätig.