Stefan Hirschmann, Risiko Manager, vom 14. Januar 2016
Solvency II zwingt die Versicherer, ihr Risikokapital nach modernen Verfahren neu zu ermitteln, ein verbessertes Risikomanagement einzurichten und eine Vielzahl zusätzlicher Berichte zu erstellen. Künftig bestimmt eine Standardformel die Höhe des mindestens vorzuhaltenden Risikokapitals.
Die EU-Versicherungsdirektive Solvency II, die Anfang Januar 2016 in Kraft getreten ist, stellt Versicherer vor größere Herausforderungen. „Wer damit nicht richtig umgeht, wird kein Kapital anziehen“, sagt Patrick Liedtke von BlackRock. Versicherer mit hohen Solvabilitätskennziffern könnten ihr Geschäft erweitern und in höher rentierliche Anlagestrategien investieren. Für die Unternehmen mit geringeren Solvabilitätskennziffern werde es dagegen schwieriger, so Liedtke, denn die Geldpolitik, die starke Nachfrage nach qualitativ hochwertigen Papieren sowie neue Regulierungsvorschriften haben zu geringeren Handelsbeständen und -umsätzen geführt. Das belastet die Liquidität am Anleihenmarkt. Insofern führen die strengeren Kapitalanforderungen im Rahmen von Solvency II dazu, dass europäische und globale Versicherer – speziell die mit geringeren Solvabilitätskennziffern – ihre Bestände an Anleihen mit Investmentgrade-Ratings aufstocken und ihre Anlageportfolios unter der Maßgabe engerer Risikobudgets stärker diversifizieren.
Solvency II zwingt die Versicherer, ihr Risikokapital nach modernen Verfahren neu zu ermitteln, ein verbessertes Risikomanagement einzurichten und eine Vielzahl zusätzlicher Berichte zu erstellen. Künftig bestimmt eine Standardformel die Höhe des mindestens vorzuhaltenden Risikokapitals. Dabei steigen die Beiträge für einzelne Versicherungssparten zum Teil erheblich, da die Standardformel das Risiko der Unternehmen adäquater als bisher bemisst. "Als Folge können Verbraucherpreise z.B. bei Produkten mit Naturgefahrdeckungen wie der Wohngebäudeversicherung anziehen", sagt der Mathematiker und Aktuar Dietmar Kohlruss von der Beratungsgesellschaft Meyerthole Siems Kohlruss aus Köln. Durch Solvency II müssen die Versicherer ihre Kapitalverhältnisse nicht nur der Aufsichtsbehörde BaFin offenlegen, manche Informationen werden künftig auch öffentlich zugänglich sein. Dadurch werden die Karten auch bei der Bewertung von Unternehmen in Ratings oder Produktvergleichen neu gemischt. Die Folge kann eine Veränderung in der bisherigen Versicherungslandschaft von ca. 400 Unternehmen in Deutschland sein. „Vom Markt verschwinden werden aber nur wenige Versicherer aufgrund von Solvency II. Die Reform legt aber bereits bestehende Schwachstellen auf. Es ist wie bei brüchigen Bäumen, von denen ein Fachmann bereits vor dem Sturm absehen kann, dass er fallen wird“, sagt Kohlruss. Die Versicherungsunternehmen stöhnen unter dem immensen Aufwand, den ihnen Solvency II jetzt schon seit Jahren beschert hat. Diverse Umstellungen und hohe Nachweispflichten sind nötig. Der Aufbau von Kompetenz für die neuen Berechnungen wird zur Pflicht. „Die Branche wird ein Stück weit mathematischer“, glaubt Kohlruss.
Nach Ansicht der Unternehmensberatung Sopra Steria Consulting haben viele klassische Geschäftsmodelle ausgedient. Als Antwort auf wachsende Compliance-Anforderungen, das anhaltende Zins-Tief und den verschärften Wettbewerb wollen die meisten Versicherer ihre Digitalisierungsbemühungen in den nächsten zwei Jahren verstärken. Als Belastungen für neues Wachstum gelten laut einer aktuellen Umfrage vor allem die neuen Regulierungsvorschriften, insbesondere die Umsetzung der EU-Vermittlerrichtlinie sowie die verschärften Eigenkapitalvorschriften gemäß Solvency II. Das anhaltende Niedrigzinsniveau spielt in diesem Punkt eine geringere Rolle als noch 2013. Drei von vier Entscheidern empfinden es derzeit als besondere Herausforderung für das eigene Unternehmen. Vor zwei Jahren lag dieser Wert noch bei 82 Prozent. Kaum noch Wachstumsperspektiven sieht die Branche für die klassische Lebensversicherung. Hoffnungsträger sind dagegen sowohl die betriebliche Altersvorsorge als auch Komposit-Versicherungen.